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Untertage im Bergwerk

Auf Entdeckungstour im Stollen

Beim Bergsteigen geht es dem Himmel entgegen. Aber was, wenn man die entgegengesetzte Richtung einschlägt? Wenn man statt den Berg hinauf in den Berg hinein steigt? Dann landet man bei einer ganzen Reihe von Urängsten: Enge, Finsternis, Orientierungslosigkeit. Sich ihnen bergsteigend zu stellen, ist ein einzigartiges Erlebnis. Eines, das nachwirkt.

Drei Grad, Nieselregen, eine dicke Nebelsuppe: Als mich Robert Gruber, der Geschäftsführer des Kulturvereins Bergwerk Villanders, am Besucherparkplatz begrüßt, herrscht nicht gerade Bergwetter. Trotzdem steht eine Bergtour an. Eine, die für mich völliges Neuland ist, eine, von der ich nur weiß, dass sie mich tief ins Bergwerk Villanders führen wird, eine, von der Robert gesagt hat, sie sei „ein bissl extremer“. Extremer als was? Keine Ahnung, aber ich rede mir ein, der Vergleich war jener mit der normalen Besuchertour. Das ist machbar, denke ich. Hoffe ich.

Das Wetter passt also bestens zur Stimmung im Kopf. Die ist genauso wolkenverhangen, ein paar Fragen kurven schon seit Tagen in Dauerschleife durch mein Hirn: Wie wird’s mir da drinnen gehen? Wie wird die Tatsache auf mich wirken, dass sich Tausende und Abertausende Tonnen Berg über mir auftürmen? Was, wenn ich Panik kriege? Und wie um Himmels willen komme ich da wieder raus?
"Wie wird's mir da drinnen gehen?"
Roberts gute Laune hilft, das alles für ein paar Minuten zu vergessen. Er zeigt mir, wo uns unsere Tour hinführt. Schon auf der Karte ist das eine Herausforderung, haben Dutzende Generationen Knappen doch ganze Arbeit geleistet. In fast 1000 Jahren haben sie den Pfunderer Berg durchlöchert wie einen Schweizer Käse. Rund 20 Kilometer Stollen ziehen sich so durch den Berg und das gleich auf mehreren Ebenen von rund 800 bis auf 1500 Meter Meereshöhe.

Kreuz und quer verlaufen die Stollen, steile Gänge verbinden die Ebenen, manch einer der Gänge endet im Licht, manch anderer im Nichts. Gut, dass ich mir das nicht einprägen muss. Gut, dass ich Robert und seinen Sohn Klaus als Führer dabeihabe, die die Stollen kennen wie ihre Westentasche. Schließlich wühlt sich Robert hier schon seit über 40 Jahren durch den Berg.


Kriechen, steigen und klettern

Egal aber, ob man nun geht, kriecht, robbt, steigt oder klettert. Immer ist es ein unbändiger Forscherdrang, der einen weitertreibt. Wie schaut’s wohl hinter der nächsten Kurve aus? Was erwartet mich im nächsten Stollen? Welche Schwierigkeiten warten? Und welche Schönheiten? Denn eines ist klar: Wer sich im Berg ein tristes Grau in Grau erwartet, liegt völlig daneben.

Das kongeniale Zusammenspiel von Wasser und Mineralien hat hier über Jahrhunderte völlig ungestört ein Wunder der Natur nach dem anderen geschaffen. Filigrane Tropfsteine hängen von der Decke, hie und da bilden sich am Boden leuchtend weiße Höhlenperlen, Schimmelpilze ziehen cremefarbene, Blattadern ähnelnde Geflechte übers Holz. Immer wieder glitzert Katzengold (Pyrit) im Schein der Stirnlampe und leuchtende Gipskristalle überziehen die Wände, als hätte sie jemand salzen wollen. Völlig unerwartet ist auch die Farbenpracht, die sich hier unten entfaltet. Ausgeschwemmter Schwefel hinterlässt gelbe Flecken und Striemen, Blei tritt tiefschwarz aus den Wänden, Eisen sorgt für rostrote Nuancen und dann ist da noch das Kupfer, das Wände hellblau oder leuchtend grün färbt, als hätte ein Kind mit dem Malkasten gespielt.
Auch das gehört zur Faszination, die das Bergsteigen im Bergwerk ausmacht: Man bewegt sich auf geschichtsträchtigem Boden. Immer, wenn ich ein Dutzend schnellerer Schritte durch einen der Stollen mache, frage ich mich, wie lang wohl die Knappen gebraucht haben, um dieselbe Strecke vorzutreiben: mit Hammer und Hacke im Schein eines brennenden Kienspans, den sie sich zwischen die Zähne geklemmt hatten. Auch auf diese Frage hat Robert (wie auf so ziemlich alle) eine Antwort: Ein Knappe schaffte acht bis zwölf Meter im Jahr, also zwei bis drei Zentimeter am Tag. Ein Monat Schwerstarbeit damals, ein Schritt heute.

Die Mühsal, unter der hier fast ein Jahrtausend lang gearbeitet wurde, ist heute kaum noch vorstellbar. Ebenso wenig ist es der Reichtum, den die Betreiberfamilien, allen voran die Augsburger Fugger, damit erwirtschaftet haben. Bis zu 1000 Menschen waren allein im und um das Villanderer Bergwerk beschäftigt, Kupfer, Zink und nicht weniger als 30 Tonnen Blei hat man in besten Zeiten pro Jahr gefördert – und 135 Kilogramm Silber, das um 1500 wertvoller war als Gold.


Und die Angst vor der Dunkelheit?

Die ist ein Kapitel für sich. Kurz vor Ende der Tour versammelt uns Robert um sich und fordert uns auf, die Stirnlampen auszuschalten. Was uns umfängt, ist absolute, undurchdringliche, pechschwarze Finsternis. Das allumfassende Nichts. „Und“, fragt Robert, „wie fühlt sie sich an, die Dunkelheit?“ Er selbst und die meisten Besucher empfänden das Pechschwarz als befreiend, spürten eine fast unendliche Weite, sagt er.

Und ich? Ich gehöre ganz offensichtlich nicht zu diesen meisten. Die unendliche Weite spüre ich erst, als ich aus dem Lorenzistollen wieder ans Tageslicht trete, als der Blick nicht mehr nur bis zur nächsten Biegung reicht, sondern hinausgeht in das Herz des Unesco-Welterbes Dolomiten: auf die Geislerspitzen, den Sellastock, auf Lang- und Plattkofel. So blöd es auch klingt: Meine Augen atmen auf. Und ich habe es geschafft: um ein einzigartiges Erlebnis und einige Erkenntnisse reicher.

Glück auf!



Auszug aus: Berge erleben - Das Magazin des Alpenvereins Südtirol AVS
Text: J. Christian Rainer
Veröffentlichung: 04/2021
Ein Mann im Bergwerk Villanders